Als evangelischer Theologe und auch in Kenntnis der Herkunft der Künstlerin, begebe ich mich auf den Weg in das umfangreiche Œuvre von Caren Dinges [C.D.] Dabei begegnen mir Werkgruppen mit den Titeln wie „Evas Erwachen“, „Eva im Gespräch“, „Zwischen Himmel und Hölle“, „Auferstehung“ oder „Kontemplation“.
Hier spiegelt sich für mich die Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft. Einer Herkunft, die geprägt war, durch ein evangelisches Pfarrhaus, mit einer starken, pietistischen Frömmigkeit. Es war zugleich auch ein Aufwachsen innerhalb der prägenden Kraft einer evangelischen Toleranzpfarrgemeinde, Ramsau am Dachstein/Steiermark, in der das Leben der Menschen noch von vielen Traditionen bestimmt war und ist.
Die Prägung ihrer Kindheit ist nicht einfach kompatibel mit den Herausforderungen des eigenen Lebens als Künstlerin unserer Gegenwart, mit den Versuchungen der Konsumgesellschaft, mit dem moralischen Liberalismus und dem Kampf um die tägliche Existenz. C.D. empfindet ihr Leben immer wieder als Zerreißprobe zwischen den überkommenen Werten, Geboten und Verboten einerseits und der eigenen Lebenserfahrung, den eigenen Sehnsüchten und Gefühlen, den Hoffnungen und Visionen andererseits, die sie für sich selbst, aber auch für die Welt hat.
Als Schüsselbild der Versuchung bezeichnet C.D. das Bild „Weibliche Waagschalen“ aus dem Zyklus „Evas Erwachen“. Eva hält in ihren Händen je einen Apfel der Versuchung. Sie steht vor der Entscheidung, ob sie der Schlange folgen soll und Gottes Verbot übertreten soll oder nicht. Die verbundenen Augen Evas sind nicht Blindheit, sondern Zeichen für die Innensicht von Eva, die auf ihre innere Stimme, auf ihr Gefühl hören will und nicht auf äußere Versuchung. „Ja oder Nein?“, und „Was sind die Folgen?“, schreibt C.D. dazu.
Mit diesem Bild thematisiert C.D., worum es in dem alten biblischen Text geht: Um die Grundexistenz des Menschen zwischen „Ja“ und „Nein“, zwischen Gehorsam und Rebellion, zwischen Gut und Böse. Die biblische Textform der Sage erlaubt eine zeitlos gültige Aussage, nämlich die Wahrheit als Deutung der Existenz des Menschen: Der Mensch lebt in ständiger Entscheidungssituation, in ständiger Versuchung, im Widerspruch.
Das Symbol der Versuchung wird von C.D. als verlockend schöner Apfel gemalt. Das ist uralte Tradition in der bildenden Kunst, auch der christlichen, aber falsch! Es war kein Apfel, der Eva im Paradies verführte. Es war eine verführerische Frucht, deren äußerer Reiz einfach zu verlockend war. Der innere Reiz der Frucht am Baum im Paradies war aber noch viel anziehender: Wer davon aß, wurde klug! Diese Auskunft bekam Eva von der Schlange. Die Schlange auf dem Baum wurde fälschlicherweise in der christlichen Tradition lange mit dem Teufel identifiziert, aber sie ist schon in der ägyptischen Religion das Symbol der Weisheit und Klugheit. Darum ist die Schlange bis heute in der Medizin das Zeichen für das Wissen um Heilung und heute an jeder Apotheke zu sehen.
Diese Schlange also sprach zum Weibe (ich zitiere die treffliche Übersetzung Martin Luthers): „Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: An dem Tag, an dem ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. Und das Weib sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er aß.“ (1.Buch Moses, Kap 3, Verse 4-6)
Das war der Sündenfall! Nichts ist so schön und lustvoll als zu sündigen, also etwas Verbotenes zu tun, noch dazu, wenn die Wirkung der Sünde so verheißungsvoll ist: Sein wie Gott! Zu wissen, was Gut und Böse ist, also die letzte moralische Instanz zu sein! Wer könnte einer solchen Versuchung widerstehen?
Das Weib, die Frau, die Eva (übersetzt bedeutet der hebräische Name: Leben schaffend) konnte es nicht, und Adam (übersetzt: Mensch) konnte seiner Frau nicht widerstehen. Kommt uns das bekannt vor? So geht es in der Welt bis heute! Nirgendwo schmelzen die Prinzipien der Männer so schnell dahin, wenn sie von einer Frau verführt werden. Schwachheit, dein Name ist – Mann!
Aber bleiben wir noch bei der Sucht nach Sünde. Alles können wir Menschen besser ertragen, als wenn uns etwas verboten wird. Dann fühlen wir uns ausgeschlossen, ausgegrenzt, uns wird etwas vorenthalten und wir fühlen uns um wesentliche Genüsse des Lebens betrogen. Darum zielt unser ganzes Sinnen und Trachten darauf, dieses Verbot zu umgehen, zu übertreten oder einfach zu
negieren, um an die verbotene Frucht des Genusses heranzukommen. Und dafür nehmen wir jedes Risiko in Kauf und setzen sogar das eigene Leben aufs Spiel.
Immerhin hatte Gott sein Verbot, von der Frucht des Baumes der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, mit der Strafe des Todes unterstrichen. Aber das ist es ja! Nichts vertragen wir Menschen schlechter, als wenn einer mehr weiß als ich. „Wissen ist Macht“, damals so wie heute! Die Weltgeschichte und unser persönliches Leben sind gefüllt mit Beispielen dieser Sucht nach Macht.
Wenn ich genauso viel weiß wie Gott, dann bin ich der klügste Mensch und – dann ist nicht einmal Gott mir überlegen, sondern ich bin ihm gleich, gleichwissend und gleichwertig! Dann brauche ich als Mensch diesen Gott nicht mehr! Dann bin ich nicht mehr abhängig von ihm, muss Gott nicht mehr gehorchen, sondern bin mein eigener Herr, meine eigene Frau, vollkommen selbständig in meinen Entscheidungen, Verhaltensweisen, Werten und Normen, ich bin absolut frei!
Ist das nicht der Traum jedes Menschen? Die Sünde im Paradies ist nichts anderes als das Streben des Menschen nach Freiheit und Unabhängigkeit, es ist keine moralische, sondern eine geistige Sünde. Die Sucht nach Freiheit, nach Unabhängigkeit in allen Bereichen des Lebens, ist existentiell. Diese Sünde erfasst das Wesen des Menschen, denn sie ist die Sucht, sich selbst absolut zu setzen. Kein Mensch kann sich dieser Sucht entziehen, denn sie wird begleitet von der Lust des Wissens. Diese Gedanken als Auslegung des biblischen Textes vom Sündenfall, der den Verlust des Paradieses zur Folge hatte, finde ich in vielen Bildern von C.D. wieder.
Eva ist nackt und doch bekleidet, dh. der nackte Mensch ist der Mensch im Paradies, der bekleidete Mensch ist der Mensch nach dem Sündenfall. Kleidung ist Schutz vor den zudringlichen Blicken, vor der sexuellen Begierde eines anderen Menschen. Doch vor Gott hilft kein Kleid, vor Gott ist der Mensch nackt mit seinen guten und bösen Eigenschaften und Taten.
Eva hat als Kopf den Apfel der Versuchung (Zyklus „Eva im Gespräch“). C.D. spielt mit diesem Symbol, denn sie zeigt die Versuchung in vielen Variationen: als Doppelkopf, um die Stärke der Versuchung im Denken zu zeigen; als Balanceakt zwischen den Versuchungen; als Begegnung mit anderen, um die Versuchung von außen zu zeigen; im Kuss als sexuelle Versuchung; im gegessenen Apfel, von dem nur noch der Stiel übrig ist als Zeichen, dass Eva den Kopf verloren hat; auch als verzehrter Apfel, der in den Bauch gerutscht ist als Zeichen der Schwangerschaft, was ein Hinweis auf die Strafe Gottes für Eva deutbar ist, „mit Schmerzen wirst du Kinder gebären“.
Diese Deutungen kamen mir beim Betrachten der Bilder. Zugleich war für mich auffallend, dass im Hintergrund das Fensterkreuz oft nur als Andeutung, dh. als reines Kreuz, zu sehen ist. Es kann als christliches Symbol für die Erlösung durch Jesus interpretiert werden, als Antwort auf die ständige Versuchung? Und natürlich fällt einem dabei gleich die Bitte im „Vaterunser“ ein: Und führe uns nicht in Versuchung.
Für meine Betrachtung ist es C.D. gelungen, tiefe menschliche und theologische Wahrheiten anschaulich zu machen. Sie gibt mit ihren Bildern keine Antworten, aber sie zeigt Richtungen auf, in welche die Gedanken eines Betrachters gehen können.
Besonders eindrucksvoll ist das Bild „Katharsis“. Es ist die Auseinandersetzung mit der Frömmigkeit des Betens. Nach alter evangelischer Bildtradition, die mit Lukas Cranach d. Ä. begonnen hat, ist dem Bild der Text eines Kindergebetes unterlegt. Reinigung der Künstlerin vom Zwang des Betens? Es ist deutlich, wie sehr C.D. nicht nur eine „Zerrissene“ oder „Versuchte“ ist, sondern auch eine „Suchende“.
Mögen diese Bilder viele Menschen mit auf den Weg der Suche nehmen, ihnen die Wahrheit vermitteln, in Verantwortung vor sich selbst, vor den anderen Menschen und auch vor Gott.
Graz 2006, Prof. Mag. Ernst-Christian GERHOLD